Die Tagespost - 19.02.2000
 Die Erlassjahr-Kampagne – bloß ein Mittel, um schlechte Gewissen zu beruhigen?

Entwicklungspolitik am Wendepunkt – Ist ein Schuldenerlass nur gerecht oder auch effizient? – Sozialethische Herausforderungen / Von Alexander Saberschinsky

TRIER (DT). “Heiligt das fünfzigste Jahr und verkündet Freiheit für alle Bewohner. Ein Erlassjahr soll es für euch sein.” Mit diesem Zitat aus Levitikus 25,10 fordern nicht zuletzt kirchliche Vertreter einen weitreichenden Schuldenerlass für die armen Länder noch im Jahr 2000. Sieht man von der exegetischen Diskussion ab, ob sich das Zitat zu Recht auf die Entschuldung von Staaten anwenden lässt, bleibt die – für Christen grundlegende – Frage, ob sich mit der Bibel Politik machen lassen kann.

Guter Wille allein nützt nicht

Niemand kann die Verantwortung der reichen Industrienationen für die armen Länder ernsthaft in Frage stellen. Es geht nicht darum, dass sich die reichen Nationen durch finanzielle Entwicklungshilfe oder einen Schuldenerlass aus ihrer historischen oder moralischen Schuld freikaufen. Die armen Länder selbst müssen Maßstab sein und die Frage, ob ihnen nachhaltig geholfen wird. Ob diese Hilfe auch ankommt und Erfolg hat, darüber sagen absolute Zahlen noch gar nichts aus. Richtig ist, dass Entwicklungshilfe finanziell in den letzten Jahren immer weiter zurückgegangen ist. Vielleicht liegt dies daran, dass fünfzig Jahre materielle und personelle Entwicklungshilfe es nicht geschafft haben, dem Großteil der armen Länder auf die eigenen Füße zu helfen.

Bislang wollte Entwicklungshilfe die wirtschaftliche Diskrepanz zwischen den Industrieländern und den aus den Kolonialreichen entstandenen neuen Nationen ausgleichen. Immerhin wächst in einigen Entwicklungsländern die Wirtschaft mittlerweile aus eigenen Kräften. Dennoch: die Misserfolge sind ernüchternd. In vielen Ländern der so genannten Dritten Welt herrscht himmelschreiendes Elend, wird Raubbau an der Umwelt betrieben, toben Bürgerkriege. Entwicklungstheorien deuten die Ursachen unterschiedlich: Einige entdecken die Gründe der Armut im Entwicklungsland selbst, etwa im hohen Bevölkerungswachstum, andere machen äußere Faktoren verantwortlich, etwa die willkürliche Grenzziehung der Kolonialmächte. Aber solche Theorien stellen noch keine Kriterien für die Praxis bereit – vor allem keine ethischen.

Schon jetzt zeichnen sich für die Entwicklungszusammenarbeit der Zukunft zwei Konsequenzen ab: Zum einen ändert sich das Vorzeichen der Entwicklungspolitik. Eine globale Angleichung an das Konsumniveau der Industrieländer erscheint unmöglich, ein Ausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern illusionär. Doch das impliziert keinesfalls das Ende der Entwicklungspolitik, sondern einen neuen Schwerpunkt, der in Zukunft verstärkt auf der Armutsbekämpfung liegen muss – so lautet die Auffassung des Trierer Politikwissenschaftlers Peter Molt.

Armut spricht dabei nicht nur materielle Not an sondern auch Gesundheit, Rechtssicherheit, räumliche und soziale Mobilität und die soziale Teilhabe insgesamt. Denn Entwicklung umfasst nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Kultur und Politik, kurz die Entfaltung des Humanums. Es ist Verdienst von Papst Paul VI., bereits 1967 in seiner Sozialenzyklika “Populorum progressio” für diesen umfassenden Entwicklungsbegriff plädiert zu haben: “Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum”, schrieb der Papst. Wahre Entwicklung muss umfassend sein, sie muss den ganzen Menschen im Auge haben und die gesamte Menschheit.”

Die zweite Konsequenz für die Entwicklungspolitik der Zukunft berücksichtigt die Globalisierung. Wirtschaft und Finanzmärkte sind davon am stärksten betroffen, sie agieren nun nicht mehr vorrangig im nationalen Rahmen, sondern in weltweiter Vernetzung, jenseits der Grenzen einer einzelnen Nation. Folge: Die Wirtschaftsleistung der Entwicklungsländer wird künftig weniger von der gewährten Entwicklungshilfe abhängen, als von weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Daher wird neben bilateralen Verträgen die globale und multilaterale Kooperation immer wichtiger. Und die Zukunft der Entwicklungspolitik wird weniger in Einzelprojekten liegen, sondern eher im Bemühen um Strukturen, die die Entwicklungsländer an der Weltwirtschaft und am wirtschaftlichen Wachstum teilhaben lassen. Allerdings müssen solche Strukturen auch gerecht sein.

Zu fragen, welche Strukturen gerecht sind, ist “Geschäft” der Sozialethik, wie sie in der Katholischen Soziallehre grundgelegt ist. In “Populorum progressio” hat Paul VI. darauf hingewiesen, dass der Handel zwischen Industrie- und Entwicklungsländern Regeln benötigt, damit die armen Länder nicht die Verlierer bleiben.

“Good governance”

 Die Gespräche der Europäischen Union mit dem Handelsbündnis Mercosur (Brasilien, Argentinien, Paraguay, Uruguay) und den AKP-Staaten, einem Zusammenschluss von 71 Entwicklungsländern aus Afrika, der Karibik und dem Pazifik, sind ein Versuch, derartige Regeln auszuhandeln. In einem Rahmenbündnis zwischen Europäischer Union und AKP-Staaten, das die auslaufende vierte Lomé-Konvention ersetzen soll (vgl. DT, 30.12.1999), wird der Grundsatz einer verantwortungsvollen Regierungsführung verankert. 

Mit “good governance”, zu deutsch “guter Regierungsführung”, ist ein Kriterium für die künftige Entwicklungspolitik benannt, das zugleich in der Entschuldungsfrage hilfreich ist: Hilfe beziehungsweise Entschuldung wird dabei an die Regierungsführung in den armen Ländern geknüpft, konkret, ob sie sich um Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bemühen und bereit sind zu wirtschaftlichen Reformen. Mit einer Reaktivierung kolonialer Bevormundungsstrategien hat das nichts zu tun, vielmehr handelt es sich um ein ökonomisches wie ethisches Kriterium für effiziente und gerechte Hilfe. Das Übel liegt ja nicht am fehlenden Geld, sondern oft daran, dass man das Geld, das da ist, nicht effizient zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Produktion nutzt. Vom ethischen Standpunkt stellt sich zudem die Frage, ob die Hilfen auch den Menschen, näherhin dem Gemeinwohl, nützen: Korruption jedenfalls verträgt sich kaum mit “good governance”. Die Bevölkerung in den Entwicklungsländern hat auch ein Interesse daran, dass die Mittel effizient, also nicht nur konsumtiv, sondern produktiv verwendet werden, damit alle vom Wirtschaftswachstum profitieren. Zudem: Bei einem Schuldenerlass muss klar sein, dass er den Bedürftigen nützt – nicht denjenigen, die durch Missbrauch und Fehlwirtschaft die schlechte Lage mitverantworten.

Der ehemalige Bundesbankpräsident Tietmeyer hat vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass ein Schuldenerlass sich in ein Gesamtkonzept einfügen muss, das die Situation der Armen nachhaltig verbessert (vgl. DT, 12.6.1999). Dieses Gesamtkonzept muss die armen Länder zur wirtschaftlichen Selbständigkeit befähigen, damit sie in die Eigenverantwortlichkeit entlassen werden können. Eben dies beschreibt die Katholische Soziallehre mittels des Subsidiaritätsprinzips. “Hilfe zur Selbsthilfe” ist dabei nur ein Aspekt, Entwicklungshilfe lässt sich nicht von außen verordnen. Alle Erfahrung zeigt, dass sie nur dort Erfolg hat, wo sie vor Ort konzipiert und von der Zivilgesellschaft mitgetragen wird.

Nicht in Appellen stehenbleiben

Doch was heißt “die armen Länder in die eigene Verantwortung entlassen”? Biblisch gefärbte Appelle zu guter Sitte oder die pauschale Aufforderung, Schulden zu erlassen, helfen nicht weiter. Nur ein Wirtschaftswachstum, das sich selbst trägt, löst wachsenden Wohlstand aus, der nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch sozialen Fortschritt bewirkt. Hier zeigt sich, dass Effizienz und Gerechtigkeit zwei Seiten einer Medaille sein können. Wer glaubt, Moral und Wirtschaftlichkeit gegeneinander ausspielen zu müssen, irrt. Den armen Ländern ist weder mit pauschalem Schuldenerlass gedient, noch mit unserem skrupulösen Gewissen ob unseres Wohlstands. Eher liegt der Lösungsansatz darin, Wachstumskräfte in den Entwicklungsländern zu fördern, die nicht nur die Wirtschaft stärken, sondern auch soziale Gerechtigkeit bewirken. Soll dies gelingen, ist zweierlei nötig: Es muss eine Kontrolle geben, die eine zweckentsprechende Verwendung der Mittel garantiert. Daneben müssen Anreize geschaffen werden, die marktwirtschaftliches Verhalten und besseres Wirtschaften stimulieren. Beides sind Erfordernisse, die an die wirtschaftliche und politische Rahmenordnung zu richten sind. Deren Strukturen müssen gerecht sein, soll den Entwicklungsländern wirklich geholfen werden. Nur so kommen Ethik und Wirtschaft, Gerechtigkeit und Effizienz zusammen.