Die Tagespost 9.5.2000, Nr. 55
  Die Arbeit ist für den Menschen da, nicht umgekehrt

Sozialethische Anregungen zum Wandel der Arbeitswelt / Von Alexander Saberschinsky

TRIER (DT). "Vollbeschäftigung ist wieder erreichbar!" Das wollen zumindest einige Stimmen aus der Tagespolitik angesichts guter Wirtschaftsprognosen glaubhaft machen. Die aktuellen Arbeitslosenzahlen sprechen jedoch derzeit noch eine andere Sprache. Und die ist bedrückender als jene optimistische Zukunftsmusik. Bedrückend - das gilt in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist die fortdauernd hohe Arbeitslosigkeit eine drückende Last auf dem Rücken der Volkswirtschaft. Denn die Arbeitslosen stellen insofern eine Belastung dar, als sie einen unfreiwilligen Verzicht auf das volle ErwerbspersonenpotentiaI bedeuten.

Darüber hinaus sind die Arbeitslosen auch eine Doppelbelastung für den Sozialstaat, der nicht nur durch die Arbeitslosigkeit vermehrte Ausgaben hat, sondern dem zugleich auch die Einnahmen fehlen.

Ein psycho-soziales Unglück

Doch Arbeitslosigkeit ist nicht nur eine ökonomische Misslage, sondern auch ein Unglück für die Betroffenen, also nicht nur eine volkswirtschaftliche, sondern auch eine psycho-soziale Frage. Denn in der Regel wird das Selbstwertgefühl der Betroffenen angekratzt. Hinzu kommt die Belastung in der Familie und im Freundeskreis. Man spricht von "Opfer durch Nähe". Auch die sozialen Bindungen im beruflichen Umfeld gehen verloren. All dies wirkt sich natürlich auf die Moral des Arbeitslosen aus. Doch warum trifft das Schicksal der Arbeitslosigkeit so hart? Die Erwerbstätigkeit bildet in unserer Gesellschaft die entscheidende Größe, die nicht nur persönliche Identifikation stiftet, sondern auch die gesellschaftliche Integration bestimmt. Andersherum ausgedrückt: Wer nicht arbeitet, und zwar im Sinne von Lohnarbeit, der ist nichts und ist auch für die Gesellschaft unnütz - so lautet zumindest das Vorurteil. Das erklärt, warum Arbeitslosigkeit auch von vielen als Verletzung ihrer Würde empfunden wird.

Gerade für dieses Problem zeigt die kirchliche Sozialverkündigung ein sensibles Bewusstsein. So hat Johannes Paul II. darauf hingewiesen, dass Arbeit keine rein mechanische Verrichtung ist. Vielmehr ist der ganze Mensch mit Leib und Seele in seine Arbeit involviert, und zwar unabhängig von der konkreten Tätigkeit. Der Papst hat davor gewarnt, sich vom vordergründigen Eindruck des Industriezeitalters täuschen zu lassen, dass die Maschinen arbeiten und nicht der Mensch.

Um mit den Sozialenzykliken zu sprechen: Das Subjekt der Arbeit ist der Mensch. Daher ist der Mensch nicht für die Arbeit da, sondern umgekehrt. Und deshalb muss der Mensch und dessen Würde immer der Maßstab der Arbeit sein. Das gilt auch für die Erwerbstätigkeit. Die Lohnarbeit ist keine "Ware", sondern besitzt personalen Charakter.

Weil die Katholische Soziallehre die Person des Menschen in den Mittelpunkt stellt, kann sie einen viel weiteren Horizont entwickeln, als dies ein nur auf die Erwerbstätigkeit eingeschränkter Arbeitsbegriff zulässt.

Diese Engführung prägt aber die derzeitige Diskussion um die Arbeitslosigkeit und den Wandel der Arbeitswelt.

Stille Arbeit mit viel Wirkung

Daher hat Johannes Paul II. zum Beispiel daran erinnert, dass auch die häusliche und familiäre Arbeit, etwa die Kindererziehung, Arbeit ist, auch wenn sie nicht von einem Arbeitgeber entlohnt wird. Diese Form von Arbeit braucht eine ,,soziale Aufwertung". Auch wenn die Erwerbsarbeit heute noch im Bewusstsein der meisten über persönliche Identifikation und gesellschaftliche Integration entscheidet, kann sich die Sozialethik nicht davon dispensieren, kritisch zu fragen: Brauchen wir eine neue Arbeitsgesellschaft?

Unsere Gesellschaft ist eine Arbeitsgesellschaft, die sich fast ausschließlich an der Erwerbstätigkeit orientiert. Der private Lebensbereich wird davon streng getrennt. Die Erwerbstätigkeit erfolgt über den Markt und außerhalb des privaten beziehungsweise familiären Lebensbereichs, während alle anderen Tätigkeiten als nicht marktgängig in eben diesen privaten Lebensbereich verwiesen werden.

Dazu zählen im familiären Bereich die Haus- und Erziehungsarbeit, aber auch das Engagement in Vereinen, ehrenamtliche Tätigkeiten sowie Selbst- und Nachbarschaftshilfen. Allerdings sind diese Tätigkeiten im Gegensatz zur marktförmigen und wertschöpfenden Erwerbstätigkeit nicht in vergleichbarer Weise, nämlich allenfalls ideell, sozial anerkannt.

Hier ist kritisch zu überlegen, ob in einer neuen Arbeitsgesellschaft ein solcher Dualismus zwischen Erwerbsarbeit und erwerbsunabhängiger Arbeit nicht aufgebrochen werden müsste. Es ist beispielsweise möglich, differenzierter zwischen Erwerbsarbeit, Eigenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement zu unterscheiden.

Diese unterschiedlichen Arbeitsformen müssten in eine Beziehung zueinander gesetzt werden, damit sie sich ergänzen. Das könnte konkret so aussehen, dass die Erwerbstätigkeit weiterhin wichtig bleibt, jedoch nicht mehr so dominant den Lebensrhythmus und die gesellschaftliche Integration des Einzelnen bestimmt. Sinnvoll wäre es außerdem, nicht von Freizeit, sondern von Eigenzeit zu sprechen. So wird deutlich, dass diese Zeit nicht einfach frei ist von Erwerbstätigkeit, sondern nach den privaten Erfordernissen gestaltet ist. Hierzu zählen zum Beispiel auch Bildungszeit wie etwa das Studium oder Hausarbeit, die kaum als Freizeit gelten können. Von zunehmender Bedeutung ist schließlich die Bürger- oder Sozialzeit. Sie hat eine zivilgesellschaftliche Funktion und könnte daher eventuell durch ein Bürgergeld honoriert werden, das neben das Erwerbseinkommen tritt.

Die Vorteile bestehen darin, dass im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die gestärkte Verantwortung und Eigeninitiative der Einzelnen den Staat und die Kommunen beispielsweise im sozialen Nahbereich entlasten. Gleichzeitig wächst durch das bürgerschaftliche Engagement in diesem Bereich das soziale Kapital in der Gesellschaft. Außerdem reduzieren Menschen, die sich in der Eigen- oder Bürgerzeit befinden, ihre Erwerbstätigkeit und entlasten dadurch den Arbeitsmarkt. Schließlich ist ein Vorteil, dass auch diejenigen gesellschaftlich stärker integriert sind, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen.

Eine soziale Herausforderung

Freilich kann eine solche grundlegende Umstrukturierung nur gelingen, wenn möglichst viele gesellschaftlichen Größen beteiligt sind: Unternehmen, Gewerkschaften, Kommunen, Einrichtungen und Arbeitsverwaltungen. Doch die Sozialethik hat die Aufgabe, hier kritische Vordenkerin zu sein, die kreativ nach neuen Wegen aus den festgefahrenen Vorstellungen fragt. Denn die Frage, ob Strukturen gerecht sind, ist speziell ihr Geschäft und angesichts des Wandels der Arbeitsgesellschaft eine aktuelle Herausforderung.