Die Tagespost 6.6.2000, Nr. 67

 

Die soziale Marktwirtschaft in der Bewährung

Katholikentag diskutiert über neuen Kapitalismus / Von Alexander Saberschinsky

HAMBURG (DT). "Wiederkehr des Kapitalismus?" – fragte das Podium, das auf dem diesjährigen Hamburger Katholikentag die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle aus Mönchengladbach vorbereitet hatte. Die Veranstaltung griff damit eine gute Tradition des Katholikentags auf, kritisch zu sozialpolitischen Entwicklungen und zu Fragen der Ausgestaltung des Marktes Stellung zu nehmen. Auch konnte Prof. Dr. Joachim Wiemeyer als Moderator des Podiums darauf hinweisen, daß gerade die Katholische Soziallehre wesentlichen Einfluß auf die Ausgestaltung unserer Sozialen Marktwirtschaft gehabt hat.

Doch eben diese Soziale Marktwirtschaft steckt heute in der Krise. Besonders die Globalisierung hat der weltweiten Wirtschaftsentwicklung eine Dynamik verliehen, die sich jeder politischen Lenkung zu entziehen scheint. Es ist bereits von der "Globalisierungsfalle" die Rede, in die der Staat gerät, wenn die wirtschaftlichen Zwänge der Politik das Gesetz des Handelns diktieren. Das bleibt nicht ohne Folgen für den Sozialstaat, der bisweilen als Bremsklotz der Globalisierung bezeichnet wird: Ist der Standort Deutschland zu teuer, vor allem durch die hohen Abgaben zur Finanzierung des Sozialstaates, beginnt die Flucht der Unternehmen ins Ausland. Doch eben dieses Geld fehlt dem Sozialstaat und führt ihn in die Krise.

Dabei war der Weg der Sozialen Marktwirtschaft in der Anfangszeit ein grandioser Erfolgskurs. Professor Anton Rauscher schilderte in seinem Statement auf dem Podium, daß die damals junge Bundesrepublik es der Sozialen Marktwirtschaft verdankte, daß Ludwig Erhards ehrgeiziges Motto vom "Wohlstand für alle" Wirklichkeit wurde. Der wachsende Wohlstand nach 1950 kam einer breiten Bevölkerung zugute und führte zu hoher Akzeptanz dieses Wirtschaftssystems.

Das Erfolgsrezept der Sozialen Marktwirtschaft ist, daß sie – angeregt von der Katholischen Soziallehre – den Menschen, nicht das Kapital in den Mittelpunkt stellt. Daher war der Ausbau des Sozialstaates eine logische Konsequenz, die durch den wachsenden Wohlstand möglich wurde. Allerdings blieb diese Erfolgsbilanz bekannterweise nicht ungebrochen: Seit den siebziger Jahren beuteln Wirtschaftskrisen und wachsende Arbeitslosenzahlen den Sozialstaat finanziell. Hinzu kommt verschärfend die demographische Entwicklung. Unter den Stichworten "Armut im Wohlfahrtsstaat" und "Shareholder-Value" diskutiert man heute die Symptome eines neuen Kapitalismus. Doch plädierte Rauscher dafür, die Lösung nicht in einer Radikalkritik der Sozialen Marktwirtschaft zu suchen, weil die Ursachen der Krise nicht in der Sozialen Marktwirtschaft selbst liegen, sondern in der Erstarrung der Rahmenbedingungen. Beispielhaft nannte er die Unflexibilität in der Teilzeitarbeit und in der Anpassung der Rentenformel. Die Wurzeln der Probleme finden sich nicht in einem neuen Kapitalismus, sondern in der Unwilligkeit und Unfähigkeit zur Anpassung an die gewandelten Umstände.

Diesen Wandel bestätigte auch Dr. Werner Tegtmeier, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, in seinem Statement und verwies neben der demographischen Entwicklung darauf, daß sich die Halbwertszeit des Wissens immer schneller verkürzt.

Auch er sprach die Globalisierung an, die dazu führt, daß wirtschaftliche Entscheidungen der internationalen Konzerne nicht mehr in den Ländern getroffen werden, in denen sie sich sozialpolitisch auswirken, zum Beispiel in Gestalt von Entlassungen. Diese sind im größeren Kontext des Sozialstaates gesehen eine Belastung, weil sie nur für das Unternehmen eine Kostenersparnis bedeuten. Aber die Kosten werden lediglich insofern externalisiert, als die Kostenstelle vom Unternehmen zum Sozialstaat wechselt. Hier zeigt sich deutlich, daß jedes wirtschaftliche Handeln eine soziale Dimension hat. Daher betonte Tegtmeier, wie wichtig es ist, daß sich die Kirchen dieses Themas annehmen – nicht zuletzt auf dem Katholikentag.

Doch welchen Beitrag können Christen angesichts der Probleme leisten? Professor Ulrich van Suntum hat in seinem Diskussionsbeitrag auf dem Podium zurecht darauf hingewiesen, daß sich aus biblischen Geboten und der Bergpredigt keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für die Wirtschaft ableiten lassen. Hingegen hat Adam Smith im 18. Jahrhundert von der "unsichtbaren Hand des Marktes" gesprochen, die das wirtschaftliche Geschehen so lenkt, daß der Unternehmer nicht nur das tue, was das Beste für ihn ist, sondern auch für die Gesamtheit. Freier Wettbewerb führt seiner Ansicht nach zu Wohlstand und sozialem Fortschritt. Soll die Gesamtheit nach den Gesetzen des Marktes profitieren, dann zählt das Ergebnis, nicht die gute Absicht, an die die Bibel appelliert. Doch van Suntum bestritt nicht, daß es christliche Ökonomen gebe. Ihr Ziel muß es sein, Gutes für eine größtmögliche Zahl zu erreichen. Doch dazu bedarf es neben einer christlichen Überzeugung auch wirtschaftlicher Sachkenntnisse, damit es nicht bei frommen Wünschen bleibt, wenn es gilt, einem herzlosen Kapitalismus zu wehren.

Auf die Frage, ob der Kapitalismus wiederkehre, reagierte Prof. Dr. Rudolf Hickel auf dem Podium mit der Gegenfrage: "War er denn je weg?" Kapitalismus herrsche noch heute, aber es müßten verschiedene Formen des Kapitalismus unterschieden werden. Die Soziale Marktwirtschaft sei auch eine Art des Kapitalismus, jedoch ein sozial gebändigter, weil sie bereits einen sozialen Ausgleich beinhalte. Allerdings beklagte Hickel den sogenannten "Turbokapitalismus", der alle Bereiche der Kosten-Nutzen-Rationalität unterwerfe, sogar schon den Pflegebereich. Daher forderte er eine politische Lenkung der Wirtschaft. Das dies möglich sei, machten im Augenblick die USA vor, in denen Gerichte den Wirtschaftskonzern Bill Gates entmachteten.

Indessen war die Forderung, die Wirtschaft durch die Politik zu lenken, nicht nur unter den Diskutanten auf dem Podium und im Publikum der Katholikentagsveranstaltung umstritten, sondern sie wird auch von vielen Wirtschaftswissenschaftlern abgelehnt. Denn es stellt sich die Frage, ob der Staat wirklich der bessere Unternehmer sei, oder ob nicht eher der Markt über die Kompetenz verfüge, seine Belange zu regeln. Unumstritten ist, daß die Wirtschaft nicht zum Selbstläufer werden darf, der über Leichen geht. Jedoch ist es das Kennzeichen der Sozialen Marktwirtschaft, daß sie den freien Markt zuläßt, allerdings ganz im Sinne der Katholischen Soziallehre in einem sozialpolitischen Ordnungsrahmen, der soziale Härten vermeidet. Denn Soziale Marktwirtschaft verbindet eine produktive und leistungsorientierte Wirtschaft mit einem sozial gerechten Ausgleich, indem sie wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit als gleichberechtigt einander zuordnet.