Die Tagespost 8.7.2000, Nr. 81

 

Qualität fällt nicht vom Himmel

Qualitätsmanagement baut auf den Mitarbeiter / Von Alexander Saberschinsky

"Lieber fein und klein" anstelle von "Masse statt Klasse"! Ist das die unternehmerische Losung der Zukunft? Jedenfalls ist Qualität in unserer Ex-und-hopp-Gesellschaft wieder gefragt, und das zu einer Zeit, in der der Glanz von "made in Germany" als Qualitätsgarantie erblasst. Dem will man wehren: "Qualitätsmanagement" heißt die Devise, nach der sich nicht nur Firmen reorganisieren. Auch Wohlfahrtsverbänden und Schulen wird das neue Heilmittel verordnet. Während eine neutrale Übersetzung das englische "Management" mit "geschickter Handhabung" übertragen würde, mag man darin eine deutsche Eigenart sehen, unter Management vor allem Verwaltung zu verstehen. Und die macht auch vor Qualität nicht halt. So hat man eine DIN ersonnen, nach der Qualität mess- und zertifizierbar ist. Eine Studie von Mc-Kinsey-Beratern belegt die Messbarkeit von Qualität. Zwei Fragen sind damit noch nicht beantwortet. Unternehmer interessiert zu Recht, ob sich Qualität lohnt: Rechnet sich Qualität für die Firma wirtschaftlich? Zudem fragt sich: Besteht Qualität nur in guten Produkten? Oder ist sie auch gut für die Menschen – und zwar für die Kunden wie für die Arbeitnehmer im Betrieb?
Angesichts des Wettbewerbs in unserer globalisierten Wirtschaft wird Qualität zum "Muss" für unternehmerischen Erfolg. Denn durch die Internationalisierung der Märkte sehen sich die Unternehmen einer wachsenden Konkurrenz ausgesetzt. Der Preiskampf auf Leben und Tod in der internationalen Arena ist längst eröffnet. Irgendwann aber ist der Zeitpunkt erreicht, an dem "billiger" keine Alternative mehr ist. Dann schlägt Kosten- in Qualitätswettbewerb um. Betriebswirtschaftler können vorrechnen, dass Qualitätsmanagement keine neuen Kosten bedeuten muss – im Gegenteil: Geringe Qualität rächt sich in Form hoher Fehler- und Prüfkosten. Hinzu kommt der Imageverlust beim Kunden. Die Konsumforschung belegt, dass die wichtigste Voraussetzung für das Vertrauen des Verbrauchers in eine Marke die Qualität des Produkts ist. Für die bezahlt er erwiesenermaßen höhere Preise.
Mit "guter" und "schlechter" Qualität sind stets Eigenschaften des Produkts gemeint. Doch auf welche Eigenschaft es ankommt und welchen Erfordernissen sie genügen muss, entscheidet letztlich der Kunde. Daher muss die Definition von Qualität davon ausgehen, dass das Produkt mit den Anforderungen des Kunden übereinstimmt, und zwar in Funktion, Preis, Sicherheit, Lieferzeit, Zuverlässigkeit, Umweltverträglichkeit, Service und vielem mehr.
Der Kunde ist nicht nur der Käufer an der Ladentheke
Es gilt: weg von der allein vom Produkt ausgehenden Bestimmung von Qualität, hin zur Kundenorientierung. Der Kunde aber ist nicht nur der Käufer an der Ladentheke. Auch der Mitarbeiter ist ein "interner" Kunde: Denn jedes Produkt entsteht in einem Prozess von Beiträgen, in dem der Mitarbeiter Lieferant und Kunde zugleich ist. So gesehen steht am Ende der Kette nur dann ein Qualitätsprodukt, wenn Qualität im Sinne einer Kundenorientierung in jedem Schritt realisiert wird. Wer nur auf das Endprodukt schaut, kommt zu spät. Denn Qualität ist eine Frage, die alle Funktionen und Bereiche eines Betriebes einschließt.
Doch was muss konkret geschehen? Die Erfahrung lehrt, dass Arbeitsorganisationen überholt sind, die auf Arbeitsteilung, Verantwortungsbegrenzung und Spezialisierung bauen. Solche Systeme verhindern die Identifikation des Mitarbeiters mit dem Endprodukt und nehmen ihm das Interesse am Ganzen. Gefragt sind Strukturen, die den Mitarbeiter ernst nehmen, indem sie ihm sichtbare Mitverantwortung übertragen. So kann sich auch der Einzelne mit dem gesamten Arbeitsprozess identifizieren. Dass das seine Motivation stärkt, die Qualität des Endprodukts zu sichern, leuchtet ein. Ein kluges Management wird auch Arbeitsabläufe innerhalb der Firma transparent machen und die interne Kommunikation fördern, damit sich der Mitarbeiter ein Bild von der Kundenerwartung machen kann. Das missglückte Experiment der Planwirtschaft zeigt: Effizienz und Qualität entstehen nicht im Kollektiv, sondern nur in einem qualifizierten Team sich ergänzender Solisten. Vielleicht rächt sich hier der europäische Individualismus. Jedenfalls haben uns die Japaner durch ihr Gemeinschaftsdenken, das auch die Betriebe beherrscht, in puncto Qualität vielfach ausgestochen. Denn Qualität ist eine Herausforderung, die alle Mitarbeiter einbezieht. Jeder ist auf seinem Posten für Qualität mitverantwortlich und trägt so zum Erfolg des Ganzen bei.
Diese Überlegungen werden von der Beobachtung bestätigt, dass die meisten Systemprobleme selten technischer Art sind, sondern vom "Faktor Mensch" abhängen. Viele Probleme werden effektiver gelöst, wenn die beteiligten Mitarbeiter als Problemlöser agieren können. So bleibt trotz allen technischen Fortschritts der arbeitende Mensch die größte Reserve für Qualität und Wirtschaftlichkeit. Er ist Ursache und letztlich auch Ziel der Produktionsprozesse. Dem tragen aktuelle Konzepte von Qualitätsmanagement Rechnung. Indem sie sich "Total Quality Management" nennen, machen sie den Anspruch deutlich, dass Qualität eine umfassende Herausforderung ist.
Freilich fällt Qualität nicht vom Himmel. Soll es nicht bei bloßen Absichtserklärungen bleiben, sind Rahmenbedingungen nötig, die nicht nur technische Voraussetzungen für Qualität schaffen, sondern auch organisatorische und personelle. Denn hier geht es um die Reaktivierung der Qualitätsressource "Mensch". Es kommt darauf an, Mitarbeiter zu schulen und sie mitverantwortlich in den Arbeitsprozess einzubinden. Konkrete Maßnahmen sind etwa Lernstätten, betriebliches Vorschlagswesen und so genannte Qualitätszirkel.
Offenbar besinnt man sich aus betriebswirtschaftlicher Sicht auf den Menschen, und das groteskerweise unter dem Diktat der Ökonomie. Total Quality Management reduziert den Mitarbeiter nicht auf seine anonyme Arbeitskraft, sondern fördert ihn als ganzen Menschen, der mit Leib und Seele bei der Sache ist. Wie anders kann man das Bestreben verstehen, sich nicht mit ameisenfleißigen, aber unmündigen Angestellten zu begnügen, sondern mündige, verantwortungsbewusste Mitarbeiter zu fördern. Was wirtschaftlich sinnvoll erscheint, deckt sich auffallend mit sozialethischen Forderungen, wie sie von der Katholischen Soziallehre artikuliert wurden.
Nicht zuletzt Johannes Paul II. hat darauf hingewiesen, dass es falsch ist zu glauben, heute arbeiten die Maschinen und nicht der Mensch. Vielmehr ist es der Mensch, der arbeitet, weil alle Arbeitsprozesse von ihm ausgehen und untrennbar mit ihm verbunden sind. Es geht nicht darum, dass in der Arbeit bloß eine Sache bearbeitet wird, sondern dass der ganze Mensch als Leib-Geist-Wesen an ihr beteiligt ist. In der Diktion der Sozialethik spricht man davon, dass der Mensch das "Subjekt der Arbeit" ist. Das heißt: Der Mensch – unabhängig von der konkreten Tätigkeit – bildet den Zweck der Arbeit. Der Mensch ist nicht für die Arbeit da, sondern umgekehrt. Die Parallele zum Qualitätsmanagement ist offensichtlich, wenn letzteres den Menschen als Ursache und Ziel des Arbeitsprozesses und damit als größte Reserve für Qualität entdeckt. Die Absichten, den einzelnen Mitarbeiter eigenverantwortlich einzubinden, um ihn so zu motivieren, auch mit Herzblut bei der Sache zu sein, bedeuten letztlich die Entdeckung des Menschen als "Subjekt der Arbeit" durch die Betriebswirtschaft.
An dieser Stelle erntet der Sozialethiker oft den Aufschrei derjenigen, die mutmaßen, er wolle die Ethik den Zwängen der Wirtschaft unterwerfen. Natürlich geht es nicht darum, Ethik zu ökonomisieren. Umgekehrt ist es ausgesprochen unkonstruktiv, sachfremd auf dem Gebiet der Wirtschaft zu moralisieren. Eher gilt es, wirtschaftlich Machbares mit moralisch Erstrebenswertem in Einklang zu bringen. Wer in der Wirtschaft tätig ist, kann wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten nicht ignorieren, und der Ethiker, der ihm helfen möchte, ebenso wenig. Ein Unternehmer ist in das hochkomplexe System gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten eingebunden. Eigenen Wünschen, auch moralischen, setzen diese Abhängigkeiten zunächst Grenzen. Respektiert er diese Grenzen nicht, wird er auch keine Chance mehr erhalten, sich "moralisch" als Unternehmer zu betätigen. "Nur ein existierender Unternehmer mit Gestaltungsmöglichkeiten kann ein ‚guter’, moralischer Unternehmer sein. Die erste Todsünde des Unternehmers ist, dass er in die roten Zahlen gerät", schreibt Wolfgang Ockenfels. Es gilt also, wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten dem ethischen Bemühen um Humanität dienstbar zu machen. Beim Qualitätsmanagement ist dies der Fall.
Der Nutzen für das Wohl des Menschen muss überprüfbar sein
Ohne Zweifel ist dessen ursprüngliches Motiv ein finanzielles: Um seine Ziele zu erreichen, besinnt sich Qualitätsmanagement auf den Menschen als Subjekt der Arbeit. Das ist nicht nur ein Gebot der Effektivität, sondern auch ethisch "gut". Denn Ethik besteht als Anwalt des Menschen darauf, dass Arbeit niemals nur eine Ware ist, sondern immer einen personalen Charakter hat. Man sollte sich vom Vorurteil lösen, Ethik und Effizienz müssten ein Widerspruch sein. Wirtschaftliche Effizienz gedeiht nicht nur auf dem Boden rücksichtsloser Unmoralität, Ethik besteht nicht in erster Linie aus mit erhobenem Zeigefinger vorgetragenen Verzichtsaufforderungen. Damit beide zusammengehen können, muss sich Ethik auch im System der Wirtschaft bewähren. Das heißt, dass die Moral nicht grundsätzlich der Ökonomie entgegen laufen und der moralisch Handelnde nicht dauernd im wirtschaftlichen System den Kürzeren ziehen darf. Darum braucht Wirtschaft verbindliche Regeln, feste Ordnungsstrukturen, die das verhindern. Es sind Formen zu finden, die jenen nicht mit Ineffizienz bestrafen, der sich auch in der Wirtschaft an das Gebot der Menschlichkeit hält. Sind wirtschaftliche Strukturen dergestalt, dass Humanität in der Wirtschaft ständig ein Verlustgeschäft ist, dann sind sie ungerecht und sozialethisch zu kritisieren. Es muss möglich sein, ethisch gut zu handeln und zugleich nach den Gesetzen der Wirtschaft effizient zu arbeiten. Der Gute darf nicht der Dumme sein.
Ethik kann das Wohl des Menschen ebenso wenig dem Belieben anheimstellen, wie Qualität aus wirtschaftlicher Sicht nur ein Glücksfall sein darf. Damit dies nicht der Fall ist, bemühen sich Qualitätsmanagement und Ethik um Rahmenbedingungen, die dafür sorgen, dass wirtschaftlicher wie ethischer Erfolg nicht vom Wohlwollen der Beteiligten abhängen. Vor allem der ethische Erfolg, der Nutzen für das Wohl des Menschen, muss überprüfbar sein, notfalls eingefordert werden können. Ein Anfang kann das Zertifizierungsverfahren nach ISO 9000 bis 9004 sein. Es bescheinigt, dass das Qualitätssicherungssystem den genormten Forderungen gerecht wird. Natürlich stehen in Industrienormen keine ethischen Qualitätsstandards. Aber Qualitätsmanagement wertet den Menschen als Subjekt der Arbeit auf, indem man den Mitarbeiter als verantwortungsvolle und kreative Person ernstnimmt. Das ist zugleich eine ethische Forderung, deren Erfüllung nicht nur vom Gutdünken des Unternehmers abhängen sollte. Durch eine Zertifizierung könnte neben dem technischen Standard auch die Verwirklichung solcher ethischen Anliegen überprüfbar werden. Das so genannte Qualitätshandbuch, das Arbeitsprozesse dokumentiert, kann auch in diesem Sinne eine Kontrollfunktion zugunsten des Mitarbeiters haben.
Von Oscar Wilde stammt der Ausspruch, er habe einen ganz einfachen Geschmack, denn er sei immer mit dem Besten zufrieden. Die Kunst liegt darin zu erkennen, dass das Beste für den Menschen nicht zum Schafen des Unternehmers sein kann.